Im Architekturdiskurs der 90er Jahre standen sich zwei Strömungen gegenüber: die eine behauptete, dass Architektur durch die Möglichkeiten der virtuellen Realität grundlegend neu geordnet würde; die andere besann sich angesichts einer zunehmenden Mediatisierung der Kultur auf architektonische Grundwerte. Die erstere sprach von Vernetzung, untersuchte formgebende Algorithmen und erforschte den virtuellen Raum; die andere argumentierte mit Typologie, Tektonik und Phänomenologie.
Heute erleben wir mit, wie sich aus der Verbindung dieser Antithesen eine neue architektonische und städtebauliche Realität formt. Aufgrund des enormen globalen wirtschaftlichen und städtebaulichen Wachstumsschubes der letzten 15 Jahren hat sich die physische Architektur durchgesetzt. Sie wird aber immer stärker geprägt von einer digitalen Praxis.
Im Entwurf, der Ausführung und der Prozesssteuerung wurden digitale Hilfsmittel zum Standard. Aus der formalen Avantgarde der 80er und 90er Jahre entwickelten sich die Stararchitekten der Gegenwart, die mit der Unterstützung von Ingenieuren und Baufirmen ihre Entwürfe ganz selbstverständlich in die Realität umsetzen.
Wie steht es aber mit dem virtuellen Raum selbst? Kristallisieren sich auch hier hybride Strukturen heraus? Wie von Stephen Graham und Simon Marvin in ihrer grundlegenden Arbeit „Splintering Urbanism“ dargelegt, bilden sich zumindest im Städtebau virtuelle Strukturen ab. In unserem Essay „Tokyo Metabolism“ argumentieren wir, dass die japanischen Convenience Stores als eine neue hybride Typologie verstanden werden können, bei der digitale Vernetzung und Markenidentität die Kontinuität und Form von Raum und Architektur ersetzen. Das gleiche gilt für globale Fertigungsketten, bei denen die räumliche Kontinuität der Fordschen Fabrik durch die digitale Kontinuität der Logistiksoftware ersetzt wurde.
Dieser Essay vertritt die These, dass auch der Raum, den wir wahrnehmen und erleben, eine Mischform von realen und virtuellen Elementen ist. Virtualität manifestiert sich also nicht als Cyberspace der Zukunft sondern als digitale Realität der Gegenwart, dem Zusammenspiel von realen Räumen und virtuellen Strukturen mit einer Vielfalt von neuen technischen und narrativen Möglichkeiten. Begriffe und Konzepte aus der Architektur greifen nicht immer um diesen hybriden Raum zu beschreiben. Eine neue Begrifflichkeit muss dafür entwickelt werden mit Konzepten aus Szenographie, Medienwissenschaften, Game Design, Architektur und Städtebau.
Schaefer, Markus: „Digital Realities“. in: Archithese, no.4, Juli/August, 2010
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